Pharaos Fliegen

Der Ungeduld über Dinge, die man als die unbedeutenden Belange des Lebens einstuft, kann man mehr als die Hälfte aller geistlichen Schiffbrüche in der christlichen Welt verdanken. Ungeduldigen Gefühlen und äußerungen fortwährend Raum zu geben, zerstört das Fundament des Friedens und hinterlässt ein so verletztes Gewissen, dass alle Freude, die man erlebt hat, aus einem leeren Bekenntnis gequetscht wird. Solch eine Religion ist ein Fehlschlag. Sie kann dem täglichen Strom der Widerwärtigkeiten nicht standhalten, diesen winzigen Strömungen, deren Quelle irgendeinem versteckten Bach entspringt, geschaffen von unendlichem Tröpfeln, sei es in der Küche oder im Büro. Und dennoch ist ihre Flutstärke weitaus größer als sie im ersten Augenblick erscheint.

Ich nehme jetzt auf diese ruhelosen Ströme von Tagesereignissen Bezug, die durch jedes Leben fließen. Sie erschöpfen die Kraft, reizen den Geist und ermüden die Nerven. Tatsache ist, dass sie, als Ganzes zusammengefasst, den Leib und die Seele viel stärker in Anspruch nehmen, als von Zeit zu Zeit wiederkehrende Stürme und Gewitter es tun können. Nicht die Wolkenbrüche und Wirbelstürme lassen die Berge zerfallen, sondern der stetige Regen, das fortwährende Tröpfeln, das durch die Spalten, Ecken und Rinnen sickert, löst die massiven Gesteinsbrocken und zerstört diese Naturdenkmäler. Genauso verhält es sich mit tausenden von Seelen: Was ihre Bollwerke der Geistlichkeit untergräbt, ist das beständige Nachgeben unter dem schwachen, aber durchdringenden Druck vom Tröpfeln der Prüfungen.

Eine der unmenschlichsten Folterarten des dunklen Mittelalters war, dass man den verurteilten Menschen mit Eisenketten am Boden befestigte, während man kleine Wassertropfen auf seine Stirn tröpfeln ließ, bis sein Verstand in Rage geriet, taumelte und unter dieser Miniaturwaffe zerbarst. Durch die rasend machende Fortdauer – tropf, tropf, tropf – wirkte es wie ein Schmiedehammer, der auf das Gehirn donnerte, und letztendlich starb das Opfer.

Und so zerschlagen und zerschmettern Tropfen vorübergehender Leiden die geistliche Kraft unzähliger Seelen. Sie konnten den schweren Schlag erdulden, als der Vater das Heim verließ und seinen Namen in der brennenden Lava der Schande versenkte. Auch konnten sie leuchten, als die Kinder in einem Winkel des großen, kalten Kirchhofs zu Grabe getragen wurden. Jedoch fanden sie nie die Religion, die den Verdruss des Alltags erdulden kann, der im Strom der Zeit fließt.

Es ist ja auch so beharrlich: Jeden Morgen, Nachmittag und Abend tröpfelt es weiter, wie es seit jeher geschehen ist, und mancher stellt sich die Frage, ob es überhaupt einen Strom der Gnade gibt, der diese Wasser der Reizung und der Prüfung übertreffen könnte.

Jeder Kirche und Versammlungshalle der Heilsarmee gehören große Menschenmassen an, die sich auf dem Feld als Helden erweisen, wenn es heißt dem Bajonette gegenüberzustehen, Goliath zu besiegen, den Jordan Josuas zu überqueren, dem Pöbel und der heißen Verfolgung zu widerstehen. Sie ertragen das heftige, grimmige Durcheinander der feindlichen Stöße, aber die Fliegenplage, die Pharao überwältigte, überwältigt auch sie. Sie surren in ihren Ohren – in dem aufziehenden Lärm des Hauses, der Straße oder des Büros. Sie surren in ihren Augen – indem Papiere verloren gehen, was dann eine überaus große Prüfung darstellt, besonders wenn man sich sicher ist, dass sie auf diesem bestimmten Platz auf den namentlichen Tisch gelegt worden waren. Sie surren in ihrem Mund – und der Tee ist kalt, wo er doch hätte heiß sein können und sollen. Sie kommen in ganzen Schwärmen und überschatten jeden Pfad – und man verpasst seinen Zug, man verirrt sich. Sie surren durch unsere Nächte, indem sie unsere Düsterkeit verdichten, denn nur diejenigen, bei denen die Dunkelheit des Kummers durch prüfende Umstände verstärkt wurde, wissen was nächtliche ärgernisse sind.
Weißt du, was ich sage, wenn ich diesen alltäglichen und in der Tat manchmal stündlichen Prüfungen und Widerwärtigkeiten begegne, die meine Pläne durchkreuzen, meine Absichten vereiteln und sich in meine Vorhaben einmischen? Ich sage: “Pharaos Fliegen”.

Sie sind weder groß noch mächtig und doch ist es schwieriger, sie zu überwinden und zu bezwingen als die schweren Leiden des Lebens. Ebenso ist es mühevoller, tausend Fliegen zu fangen und zu vernichten, als den grausamsten Vierfüßer. Aber die Fliegen der ärgernisse des Lebens können niemals gefangen werden – sie können nur ertragen werden, und etwas geduldig zu ertragen, ist eine der höchsten Formen geistlichen Triumphes.

Vor ein paar Wochen sagte eine Seele, die um den Segen eines reinen Herzens bat: “Kommandant, ich komme im Geschäft gut klar; ich kann unter der Verfolgung dort lächeln und singen, aber es sind die lästigen Angelegenheiten zu Hause, die mich aufregen.” Ich dachte: Ja, den Feuerofen genauso durchstehend wie die drei Hebräer, aber besiegt von Fliegen!

Oh, ich kenne manchen Riesen der Christenheit, der so bezwungen wurde! Ach, könnten doch all die Klagelieder in Moll-Tonart bejammern, welch ein Elend es ist, dass eines Menschen Religion lebenslänglich aus Mangel an siegreicher Gnade über Fliegen ruiniert wird! Verliere lieber deine Papiere als deinen Frieden! Halte lieber äußeren Lärm aus als inwendigen Streit! Versäume lieber deine Freude als deine Krone! Erdulde lieber die Nacht, als dass du den Morgen trübst! O, welch eine rettende, erobernde, helfende und erhaltende Einrichtung ist doch diese Gnade, die “alles erträgt, alles hofft, alles glaubt” und “sich nicht erbittern lässt”. ?

Evangeline Booth

[Anmerkung: Die Autorin gehörte der Heilsarmee an und gebraucht deshalb einige Begriffe aus dem Militär.]

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