Du bekennst und nennst dich selbst Christ. Nun, ist die Religion für dich eine Formsache oder eine Herzensangelegenheit? Diese Frage verdient in diesem Zeitalter besondere Aufmerksamkeit. Seit der Herr Jesus Christus die Erde verließ, gab es nie so viel Formalität und falsche Bekenntnisse wie es sie heutzutage gibt. Wenn es je eine Zeit gab, in der wir uns selbst prüfen und unsere Religion erforschen sollten, um zu wissen, welcher Art sie ist, dann jetzt.
Lasst uns hören, was Paulus dazu sagt: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist; auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und [seine] Beschneidung [geschieht] am Herzen, im Geist, nicht dem Buchstaben nach. Seine Anerkennung kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.“ (Röm 2:28-29). Drei äußerst lehrreiche Lektionen scheinen aus dieser Schriftstelle hervorzugehen:
1. Formelle Religion ist keine Religion und ein formeller Christ ist in Gottes Augen kein Christ.
2. Das Herz ist der Sitz der wahren Religion und der wahre Christ ist der, der es im Herzen ist.
3. Wahre Religion darf nie erwarten, beliebt zu sein. Ihre „Anerkennung kommt nicht von Menschen, sondern von Gott“.
Ein heiliger Puritaner sagte einst: „Formalität, Formalität, Formalität ist die große Sünde Englands unserer Zeit, unter welcher das Land seufzt. Es ist mehr Licht da als früher, aber weniger Leben; mehr Schatten, aber weniger Substanz; mehr Bekenntnis, aber weniger Heiligkeit.“ (Thomas Hall, 1658). Was würde dieser gute Mann gesagt haben, wenn er in unserer Zeit gelebt hätte?
Wenn ein Mensch nur dem Namen nach ein Christ ist, in den äußeren Dingen, nicht aber in seinen inwendigen Empfindungen, nur dem Bekenntnis nach und nicht in der Tat; wenn sein Christentum eine bloße Formsache ist oder eine Mode oder eine Gewohnheit ohne jeglichen Einfluss auf sein Herz oder sein Leben, besitzt der Mensch, was ich eine „formelle Religion“ nennen würde. Er besitzt weder ihre Substanz noch ihre Kraft.
Betrachte die Scharen von Menschen, deren ganze Religion im Einhalten religiöser Zeremonien und Verordnungen zu bestehen scheint! Sie besuchen regelmäßig öffentliche Gottesdienste, aber sie gehen niemals weiter als das. Sie wissen nichts von erfahrungsgemäßem Christentum. Sie kennen sich in der Schrift nicht aus und finden keine Freude daran, in derselben zu lesen. Sie sondern sich nicht vom Lauf der Welt ab. Sie sehen keinen Unterschied zwischen Gottseligkeit und Gottlosigkeit, weder in ihren Freundschaften noch in ihren ehelichen Verhältnissen. Sie kümmern sich wenig oder gar nicht um die kennzeichnenden Lehren des Evangeliums. Sie erscheinen äußerst gleichgültig gegenüber dem, was ihnen gepredigt wird. Du magst wochenlang in ihrer Gesellschaft sein und von allem, was du hören oder sehen magst, könntest du annehmen, dass sie Ungläubige oder Deisten seien. Was kann man über solche Leute sagen? Es gibt weder Herz noch Leben in ihrem Christentum. Ihre Religion ist eine Form.
Sieh dir die Scharen von Menschen, deren ganze Religion aus Gerede und hohen Bekenntnissen zu bestehen scheint, nun aus einem anderen Blickwinkel an! Sie kennen die Theorie des Evangeliums in ihrem Kopf und geben vor, sich an der evangelikalen Lehre zu erfreuen. Wenn du ihr inneres Leben untersuchst, erkennst du, dass sie nichts von praktischer Gottseligkeit wissen. Sie sind weder ehrlich noch wohltätig, noch demütig, noch aufrichtig, noch freundlich gesonnen, noch selbstlos, noch ehrenhaft. Was sollen wir über solche Leute sagen? Sie sind dem Namen nach Christen, und dennoch findet sich weder Substanz noch Frucht in ihrem Christentum. Ihre Religion ist ein leerer Schein.
Dies ist ein Fels, an dem Myriaden von Seelen elenden Schiffbruch erleiden. Eines der boshaftesten Dinge, die Machiavel je sagte, war Folgendes: „Um die Religion selbst sollte man sich nicht kümmern, sondern nur um deren Schein. Ihr Schein ist eine Hilfe; die Realität und Anwendung derselben ist ein Hindernis.“ Solche Vorstellungen sind von der Erde, irdisch. Nimm dich vor ihnen in Acht und sei auf der Hut! Wenn es etwas gibt, worüber die Schrift ausdrücklich spricht, dann ist es die Sünde und Sinnlosigkeit der Formalität.
Höre, was Paulus den Römern sagt: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist; auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht.“ Dies sind in der Tat starke Worte! Ein Mensch mag dem Fleische nach ein Sohn Abrahams sein, alle Feste halten, regelmäßig im Tempel anbeten und dennoch in Gottes Augen kein Jude sein! Genauso mag ein Mensch dem äußeren Bekenntnis nach ein Christ, Mitglied einer Kirche und getauft sein, an den Verordnungen teilnehmen, und dennoch, in Gottes Augen, überhaupt kein Christ sein.
Höre, was der Prophet Jesaja sagt: „Was soll mir die Menge eurer Schlachtopfer? spricht der Herr. Ich bin der Brandopfer von Widdern … überdrüssig, und am Blut der Jungstiere, Lämmer und Böcke habe ich kein Gefallen! Wenn ihr kommt, um vor meinem Angesicht zu erscheinen – wer verlangt dies von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet? Bringt nicht mehr vergebliches Speisopfer! Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumond und Sabbat, Versammlungen halten: Frevel verbunden mit Festgedränge ertrage ich nicht! Eure Neumonde und Festzeiten hasst meine Seele; sie sind mir zur Last geworden; ich bin es müde, sie zu ertragen. Und wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch, und wenn ihr auch noch so viel betet, höre ich doch nicht, denn eure Hände sind voll Blut!“ (Jes 1:11-15). Diese Worte sind sehr außergewöhnlich. Die Feste und Verordnungen, von denen Gott sagt, dass Er sie hasse, wurden von Ihm selbst vorgeschrieben. Gott selbst erklärt Seine eigenen Verordnungen als nutzlos, wenn sie formell und ohne das Herz des Anbeters gehandhabt werden. Sie sind sogar schlimmer als nutzlos, sie sind vielmehr anstößig.
Höre, was Jesus über die Juden Seiner Zeit sagt: „Dieses Volk naht sich zu mir mit seinem Mund und ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir. Vergeblich aber verehren sie mich …“ (Mt 15:8-9). Wir sehen, wie Er wiederholt die Formalität und die Heuchelei der Schriftgelehrten und Pharisäer anprangert und Seine Jünger vor ihnen warnt.
Vertrautheit mit der Religionsform, während die Realität derselben vernachlässigt wird, übt einen verheerend abstumpfenden Effekt auf das Gewissen aus. Niemand scheint so hoffnungslos verhärtet zu sein wie diejenigen, die ständig heilige Worte wiederholen und heilige Dinge handhaben, während ihre Herzen der Sünde und der Welt nachjagen. Unbekehrte Geistliche, die Woche für Woche Gebete und Lektionen aus der Schrift vorlesen, in denen sie selbst kein wirkliches Interesse finden; unbekehrte Sänger, die jeden Sonntag die geistlichsten Hymnen singen, während sie gänzlich nach irdischen Dingen trachten – alle, alle, alle sind in schrecklicher Gefahr!
Nichts ist so töricht, sinnlos und unvernünftig. Kann ein formeller Christ wirklich annehmen, dass das bloße äußere Christentum, das er vorgibt, ihn in Tagen der Krankheit und der Stunde des Todes trösten wird? Das ist unmöglich. Kann er annehmen, dass Gott weder die Herzlosigkeit noch die Leblosigkeit in seinem Christentum sieht? Der Gedanke an sich ist bereits absurd. Sollte derjenige, der das Auge gebildet hat, nicht sehen? Er kennt die tiefsten Geheimnisse des Herzens. Lieber Leser, wenn du am letzten Tag nicht zuschanden werden willst, sage ich es noch einmal: Hüte dich vor der Formalität!
Es ist nicht genug, dass ein Mensch ein richtiges Glaubensbekenntnis besitzt und einen angemessenen äußeren Schein der Gottseligkeit pflegt. Das Herz ist der Ort, an dem die errettende Religion beginnen muss. Es ist von Natur aus unreligiös und muss vom Heiligen Geist erneuert werden. „Ich will euch ein neues Herz geben.“
Ein Mensch mag – gleich den Teufeln – glauben, dass Jesus der Christus ist, und dennoch in seinen Sünden verharren. Er mag glauben, dass er ein Sünder und Christus der einzige Retter ist, und gelegentlich faule Wünsche empfinden, dass er gerne ein besserer Mensch wäre. Niemand ergreift jedoch Christus und erhält Vergebung und Frieden, bis er von Herzen glaubt. Es ist der Herzensglaube, der rechtfertigt.
Das Herz ist die Quelle wahrer Heiligkeit und beständiger guter Werke. Wahre Christen sind heilig, weil ihre Herzen beteiligt sind. Sie gehorchen von Herzen. Ohne ein rechtes Herz gibt es keine wahre Heiligkeit.
Vielleicht hast du gedacht, wenn eines Menschen Religion äußerlich korrekt ist, muss er jemand sein, mit dem Gott sehr zufrieden ist. Du irrst dich! Du verwirfst den ganzen Inhalt der biblischen Lehre. Die äußeren Dinge des Christentums – die Taufe, das Abendmahl, das Almosengeben und Ähnliches – werden niemals eines Menschen Seele in den Himmel bringen, es sei denn sein Herz steht recht.
Unter Christus Jesus hing alles davon ab, ob jemand von Neuem geboren war, wahren errettenden Glauben hatte, heilig im Leben und im Verhalten war. „Bin ich eine neue Schöpfung? Glaube ich wirklich an Christus? Bin ich ein heiliger Mensch?“ Dies sind die großen Fragen, auf die ich eine Antwort finden muss.
Wenn das Herz nicht recht steht, ist in Gottes Augen alles verkehrt. Entweder wird Er das Herz des Menschen haben oder gar nichts.
Es gibt Anbetungsstätten, wo alle religiösen Äußerlichkeiten bis zur Perfektion ausgeführt werden. Das Gebäude ist wunderschön. Der Gesang ist herrlich. Alles ist vorhanden, was die Sinne erfreut. Eines fehlt und der Mangel dieser einen Sache verdirbt alles. Es ist das Herz! Gott sieht unter all diese schöne äußerliche Schau und ist unzufrieden. Wenn Er keine bekehrten, erneuerten, zerbrochenen, reumütigen Herzen sieht, dann gebeugte Köpfe, gebeugte Knie, lautes Amen, gefaltete Hände – dann bedeutet alles, alles nichts in Gottes Augen.
Biblisches Christentum ist niemals wirklich beliebt. Es wird es auch nie sein, so lange diese Welt steht. Niemand kann gelassen über die menschliche Natur nachdenken, wie sie in der Bibel beschrieben wird, und dann etwas anderes erwarten. Die meisten Menschen werden immer weit mehr Gefallen an einer formellen Religion finden als einer Religion des Herzens.
Etwas Religion wird ein Mensch haben. Jedoch muss es eine Religion sein, die nicht viel fordert, die sein Herz nicht sehr beschwert und die sich nicht sehr in seine Sünden einmischt. Formelles Christentum stellt ihn zufrieden; es beruhigt die verborgene Selbstgerechtigkeit des Menschen und gefällt seiner natürlichen Trägheit. Der Mensch hasst Unannehmlichkeiten in der Religion. Er will etwas, das sich nicht in sein Gewissen und sein verborgenes Leben einmischt.
Die Religion des Herzens zog für ihre Bekenner Hohn, Spott, Verachtung, Geringschätzung, Feindschaft, Hass, Verleumdung, Verfolgung, Gefangenschaft und sogar den Tod nach sich. Ihre Liebhaber sind treu und leidenschaftlich gewesen, aber sie waren immer wenige.
Die Religion des Herzens ist zu demütigend, um beliebt zu sein. Sie lässt dem natürlichen Menschen keinen Platz zum Rühmen. Sie sagt ihm, dass er ein schuldiger, verlorener, die Hölle verdienender Sünder ist, und dass er zu Christus fliehen muss, um errettet zu werden. Sie sagt ihm, dass er tot ist, und wieder lebendig gemacht und aus dem Geist geboren werden muss. Der Stolz des Menschen rebelliert gegen Botschaften dieser Art. Er hasst es, wenn man ihm sagt, dass sein Fall so schlimm ist.
Die Religion des Herzens ist zu heilig, um beliebt zu sein. Sie wird den natürlichen Menschen nicht in Ruhe lassen. Sie mischt sich in seine Weltlichkeit und in seine Sünden ein. Sie verlangt von ihm Dinge, die er verabscheut und hasst: Bekehrung, Glaube, Buße, Bibel lesen, Gebet. Sie heißt ihn, viele Dinge aufzugeben, die er liebt und an denen er festhält. Es wäre in der Tat seltsam, wenn er sie mögen würde. Wie ein Spielverderber durchkreuzt sie seinen Weg.
Die Menschen, die sich gegen Formalität auflehnten, wurden heftig angeprangert als solche, die „Israel ins Unglück brachten“. Jedermann, der Religion des Herzens lobte und Formalität herabsetzte, wurde als allgemeiner Feind betrachtet.
Es bedeutet jedoch wenig, was ein Mensch denkt und was er lobt. Im Jüngsten Gericht werden wir nicht von einem Menschen gerichtet werden. Nur diejenigen, die Gott lobt, werden beim Gericht Christi gelobt werden. Hierin liegen der Wert und die Herrlichkeit der Religion des Herzens!
J.C. Ryle