Der wahre Prediger, der sowohl durch Offenbarung als auch durch Erfahrung davon überzeugt worden ist, dass nur Jesus Christus kranke Seelen zu heilen vermag, gibt sich alle nur erdenkliche Mühe, Sünder in die Gegenwart dieses himmlischen Arztes zu bringen, damit sie von Ihm geistliche Gesundheit und Erlösung erlangen können. Er ist fest davon überzeugt, dass derjenige, der nicht „mühselig und beladen“ ist, keine Hilfe suchen wird; dass derjenige, der nicht geistlich arm ist, die Reichtümer des Evangeliums beständig verachten wird; und dass diejenigen, die sich ihrer eigenen Gefahr nicht bewusst sind, den lautesten Warnungen des barmherzigen Erlösers gegenüber kein Gehör schenken werden. Seine erste Sorge liegt also darin, seinen Zuhörern die Notwendigkeit einer ungeheuchelten Reue zu vermitteln, damit, indem der Stab ihres Selbstvertrauens zerbrochen wird, er sie dazu bringen kann, mit all den Armen, Erbärmlichen, Blinden und Entblößten vor dem Thron der göttlichen Gerechtigkeit niederzufallen. Nachdem sie dann erkannt haben, dass sie dem Gesetz Gottes nach verurteilt sind und ihre Seelen nicht selbst zu erretten vermögen, ist er sich dessen bewusst, dass sie beim Thron der Gnade Zuflucht suchen werden, um wie der reumütige Zöllner zu flehen und „ohne Verdienst gerechtfertigt [zu] werden durch Seine Gnade aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ist.“ (Röm 3:24).
In diesem Zustand eines gedemütigten und reumütigen Herzens kann ein Sünder die glückseligen Folgen einer wahren Buße – welche eine Betrübnis der Seele ist – erfahren, die durch das Wort und den Geist Gottes in dem Sünder hervorgerufen wird. Auf Grund dieses neuartigen Empfindungsvermögens erkennt er nun seine natürliche Verderbtheit und seine tatsächlichen Übertretungen. Sein Herz ist von aufrichtiger Betrübnis durchdrungen. Er bedauert sie vor Gott. Er bekennt sie rückhaltlos. Er verabscheut sie mit einer heiligen Entrüstung. Er beschließt, von nun an seine Handlungsweise zu bessern und sich für den Rest seines Lebens der Ausübung jeder Tugend gottesfürchtig hinzugeben. Das ist wahre Buße. Sie besteht darin, dem Teufel und allem Sündhaften entschieden zu entsagen und Gott und allem wahrhaft Guten aufrichtig anzuhängen.
Während sich der menschliche Stolz beständig gegen diese demütigende Lehre erhebt, erwähnt sie ein wahrer Prediger immer wieder, indem er – wie einst der große Apostel Paulus – ausruft: „Alle [reuelosen Menschen sind] unter der Sünde … es ist keiner, der verständig ist, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen, sie taugen alle zusammen nichts … den Weg des Friedens kennen sie nicht. Es ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen. Wir wissen aber … [dass] jeder Mund verstopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei“ (Röm 3:9-19). „Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten.“ Also brauchen alle gleichermaßen den Beistand und die Hilfe Jesu Christi, denn „Ihn hat Gott zum Sühnopfer bestimmt, das wirksam wird durch den Glauben an Sein Blut“ (Röm 3:22-25).
Indem diese Lehre für manche ein Geruch des Lebens ist, ist sie gleichermaßen ein Geruch des Todes für andere. Verblendete Fanatiker stoßen sich an ihr, während sich moderne Ungläubige dagegen auflehnen wie einst Pharao sich gegen die Autorität Jehovas auflehnte. „So spricht der Herr“, sprach Mose zu diesem halsstarrigen Monarch, „lass mein Volk ziehen, damit es mir dient!“ (2Mo 7:26), worauf dieser hochmütige Ungläubige erwiderte: „Wer ist der Herr, dass ich auf seine Stimme hören sollte, um Israel ziehen zu lassen? Ich kenne den Herrn nicht, und ich will Israel auch nicht ziehen lassen!“ (2Mo 5:2).
Der Sohn Gottes ruft jeder sündigen Seele zu: „Komm heraus aus dem mystischen Ägypten! Folge mir nach in der Wiedergeburt!“ (Mt 19:28). „Und wer ist der Sohn Gottes?“, entgegnet ein unbedeutender Pharao, „Ich kenne weder Ihn noch Seinen Vater und fühle mich in keiner Weise verpflichtet, Seinen Geboten zu gehorchen.“
So respektlos diese Ausdrucksweise auch erscheinen mag, gemäß den Worten unseres Herrn muss das Verhalten jedes gottlosen „Christen“ diesem gleichgestellt werden. „Wer [meine Knechte und meine Lehren] verwirft, der verwirft mich; wer aber mich verwirft, der verwirft den, der mich gesandt hat.“ (Lk 10:16). Er hasst sowohl Christus als auch Seinen Vater (Joh 15:24). Seine Reue ist oberflächlich, sein Glaube ist vergeblich und früher oder später werden seine Handlungen oder Worte bezeugen, dass er ein absoluter Feind Christi und Seiner Glieder ist.
Ein Evangelist besteht auf dem Verfall, der Verderbtheit und der Gefahr nicht wiedergeborener Menschen. Gleichwie das Bewusstsein unserer Verderbtheit die Quelle ist, aus der wahre Buße und christliche Demut fließen, so ist es auch die einzig notwendige Vorbereitung für diesen lebendigen Glauben, durch den wir sowohl gerechtfertigt als auch geheiligt werden. Derjenige, der seine Augen vor seinem eigenen elenden Zustand hartnäckig verschließt, bringt sich selbst in eine Lage, die es ihm nicht möglich macht, irgendwelche Vorzüge von dem glorreichen Erlöser zu empfangen, den „[Gott] gesalbt hat, den Armen frohe Botschaft zu verkünden … zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, Gefangenen Befreiung zu verkünden und den Blinden, dass sie wieder sehend werden, Zerschlagene in Freiheit zu setzen“ (Lk 4:18).
Der Verstand selbst sagt, dass wenn ein Sünder genügend Fähigkeit besäße, sein eigenes Heil zu erwerben, dann bräuchte er keinen anderen Erlöser und „Christus [wäre] vergeblich gestorben“ (Gal 2:21). Kurz gesagt, solange wir unseren gefallenen Zustand nicht erkennen, muss die bedeutende Lehre der Wiedergeburt durchaus als überflüssig und absurd erscheinen.
Dies lässt uns eine bedeutende Ursache darüber erkennen, warum die Prediger der heutigen Zeit, die die Verderbtheit des menschlichen Herzens nur oberflächlich erkennen, über dieses Thema lediglich in einer oberflächlichen und unbefriedigenden Weise reden.
Ein wahrer Prediger dagegen, der dem Beispiel seines großen Meisters folgt, spricht über diese bedeutsame Veränderung voller Zuneigung und Macht. Beachte die Ausdrucksweise, in welcher unser Herr diese vernachlässigte Lehre selbst verkündet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen!“ (Joh 3:5). Als würde Er damit sagen: „Der natürliche Mensch – welch bewundernswerten Anschein er auch von sich geben mag – hat ein solch überaus bösartiges Herz, welches, wenn es nicht durch die von Johannes dem Täufer verkündigte Buße zerbrochen und durch den von mir verkündeten Glauben erneuert wird, niemals ein Bürger des Himmels werden kann. Denn die Tür meines Reiches muss vor diesen „reißende[n] Wölfe[n]“, die sich als Schafe verkleiden (Mt 7:15) und vor den verstellten Heuchlern, die mich als ihren Herrn begrüßen, ohne jedoch meine Lehren anzunehmen und meine Gebote zu befolgen, für immer verschlossen bleiben. „Wahrlich, sage [ich] euch“, meinen ersten Jüngern und Freunden, „wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder“ – denen neidische, ehrgeizige oder unreine Gedanken fremd sind – „so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen!“ (Mt 18:3).“
Das ist die Lehre, die immer noch im Stande ist, jeden forschenden Nikodemus umzuwandeln.
Viele fromme Theologen haben angenommen, dass allein durch die Predigt vom Kreuz Christi die Menschen zur wahren Buße geführt werden können. Was jedoch von Gott zu Jeremia gesagt wurde, trifft im gewissen Sinn auf einen wahren Prediger zu: „Ich habe dich … eingesetzt … um auszurotten und niederzureißen … zu bauen und zu pflanzen.“ (Jer 1:10). Denn bevor der heilige Weinstock gepflanzt werden kann, müssen die Dornen der Sünde zusammen mit den Disteln der gefälschten Gerechtigkeit ausgerottet werden. Und bevor der starke Turm des Heils errichtet werden kann, muss das geistliche Babylon, durch welches vermessene Menschen sich immer noch gegen den Himmel erheben, gestürzt werden.
Um Sünder in einen Zustand der wahren Reue zu führen, deckt ein wahrer Prediger die Verderbtheit des Herzens mit all den daraus resultierenden schwermütigen Folgen im Charakter und Wandel unbußfertiger Menschen vor ihnen auf.
Nur diejenigen, die zu dieser Armut des Geistes gelangt sind, sind wirklich dazu bereit, die Reichtümer göttlicher Barmherzigkeit in Empfang zu nehmen. Sobald nun ein wahrer Prediger einen Sünder über die Schrecken, die auf dem Berg Sinai erlebt wurden, ausreichend gewarnt hat, bereitet er ihn anhand eines Einblicks in die Leidensszene auf Golgatha zielstrebig auf den Trost des Evangeliums vor.
– Auszüge aus The Portrait of St. Paul von John Fletcher